Creamus, ergo sumus
Ansätze zu einer Netz-Ästhetik
von Christiane Heibach (1999)
[Eine überarbeitete Version ist veröffentlicht
in: In: Suter, Beat/Böhler, Michael (Hg.): hyperfiction. Hyperliterarisches Lesebuch: Internet und Literatur.
Frankfurt am Main: Stroemfeld 1999, S. 101-112.]
Links aktualisiert im November 03
Das 20. Jahrhundert ist das Jahrhundert der Bewegung. Kunst und ästhetisches
Denken wurden in ihrer Entwicklung wesentlich durch das Aufkommen der
neuen Medien Photographie und Film geprägt, deren mimetisch größeres
Vermögen die Abbildung einer feststehenden Wirklichkeit als primäre
Aufgabe ästhetischen Ausdrucks in Frage stellte. Gleichzeitig standen
Schriftsteller und Künstler vor dem Problem, der zunehmenden Schnelligkeit
des Alltags mit den durch den abgeschlossenen Werkcharakter letztlich
statischen, traditionellen ästhetischen Konzepten zu begegnen. Die Reflexion
über diese Fragen führte schließlich auch zu einem immer stärker werdenden
selbstreferentiellen Charakter von Kunst und Literatur. Resultat dieser
fundamentalen Sinnkrise war eine zunehmende Tendenz, die Abgeschlossenheit
des Werkes zugunsten einer Öffnung und Prozeduralisierung zu durchbrechen:
James Joyces materielle Sprachvariationsexzesse zeugen davon, ebenso
die akzelerierenden Stilmittel des Expressionismus. Wurde hier der Werkcharakter
noch bewahrt, gehen spätere Autoren wie Julio Cortázar in Rayuela
und Raymond Queneau mit Cent milles milliards des poèmes schon
weit darüber hinaus - Rayuela besteht aus einzelnen Textsegmenten,
bei denen der Leser die Reihenfolge, in der er liest, selbst bestimmen
kann (der Autor gibt nur Empfehlungen); Cent milles milliards des
poèmes räumt ihm die Möglichkeit ein, sich die Gedichte aus vorgegebenen
Segmenten selbst zusammenzustellen. Eine ähnliche Öffnung vollzieht
sich in der bildenden Kunst, in der die Werkgrenzen durch Prozeduralität
- Kunst als Happening und bewegte Installation - gesprengt werden.
Deutlich wird in beiden Entwicklungssträngen eine Bewegung von Innen
nach Außen, weg von der statischen Repräsentation hin zu Prozeß und
Transformation. Damit einher geht eine explizite Suche nach Kommunikation,
nach direkter Interaktion mit dem Rezipienten, der möglichst integraler
Bestandteil des Werkes werden soll. Die Grenze zwischen Werk und Betrachter,
zwischen Ästhetik und Sozialsystem, soll in letzter Konsequenz aufgehoben
werden. Doch schon durch die Verbannung der Kunst in eigens für sie
vorbehaltene Räume (Museen und Galerien) und - im Falle der Literatur
- durch die Bindung der Schrift an das Papier und die Grenzen des Buches
bleibt die Systemtrennung erhalten.
Dieser Entwicklungsbogen führt gegenwärtig zu einer Kunstform, die
diese Versuche der Avant-Garde-Kunst in einem neuen Medium aufgreift
und zu realisieren scheint: Der Netzkunst. Der Computer als zunächst
rein technisches Instrument fungiert heute als das Meta-Medium für
die Kunstproduktion, d.h., er stellt die technischen Mittel für die
neue Form der Multimediakunst zur Verfügung. Ihr sind Prozeß und Transformation
als Grundprinzipien auf allen Ebenen tatsächlich inhärent: zunächst
auf der technischen Ebene als digitale Signalgebung ebenso wie auf
der visuell manifestierten Bildschirmoberfläche, die sich dem Nutzer
präsentiert. Und sie ist Prozeß auf der Metaebene, indem sie ihre
Bedeutungsformen aus der Oszillation verschiedener Zeichensysteme
generiert.
Und dennoch ist Netzkunst nochmal etwas anderes als reine Multimedia-Koppelung:
Sie unterscheidet sich von Multimediakunst zunächst vor allem durch
die Möglichkeit der Einschreibung in den sozialen Kommunikationsraum
Internet. Eingebunden in dessen rhizomatische Netzstruktur eröffnet
sich zusätzlich zur Arbeit mit dem Medium - im Gegensatz zur
Avant-Garde-Kunst, die gegen ihre Medien arbeitete, - durch Nutzung
der technischen Mittel eine neue Transformationsmöglichkeit: durch Kommunikation
in Form von wirklicher Partizipation.
Dieser "virtuelle Raum" des Internet unterscheidet sich in vielem von
den Räumen, in denen Kunst und Literatur sich bisher formuliert und
formiert haben. Durch fehlende Abgrenzungen erlaubt dieser Raum die
explizite Intertextualität in Form von Vernetzung mit anderen Dokumenten,
gleichgültig welcher Provenienz. Eine Separierung des Kunstwerks von
anderen Teilen des Netzes ist schon dadurch nicht möglich, daß - im
Unterschied zum real life - Information über das Werk und das Werk selbst
sich in demselben System befinden; die Struktur des Netzes verhindert
Sozial-Systemtrennungen.
Aus dem Wegfall dieser Abgrenzungen resultiert eine für die Netzkunst
und -literatur konstitutive Verknüpfung von Technik, Ästhetik und Sozialem,
drei Ebenen, die Reinhold Grether treffend als Tech (die technische
Programmier- und Prozeßebene) - Desk (die Bildschirmoberfläche, also
die ästhetische Realisierung) - Soz (die Interaktion der Nutzer) charakterisiert
hat.
Die Hypertextpioniere Michael Joyce, Jay David Bolter
und George Landow versuchten als erste, eine Theorie des elektronischen
Schreibens zu formulieren - zunächst abgekoppelt vom Internet. Ihre
Thesen über den neuen Charakter dieser Literaturform entwickeln sie
allerdings aus einem Blickwinkel, der sich noch stark an der Printliteratur
orientiert - allein dadurch, daß sie Hypertextliteratur in explizite
Opposition zur gedruckten Literatur setzen, verschließen sie sich
der Möglichkeit, eine mediumspezifische Ästhetik zu entwickeln. Der
Versuch, poststrukturalistische und semiotische Theorien auf ein neues
Medium zu transferieren, muß zu kurz greifen, da diese sich letztlich
nur mit der Zeichen- und Bedeutungsebene auseinandersetzen, Netzliteratur
aber durch die Oszillation von Tech, Desk und Soz bestimmt wird. Neuere
Ansätze wie der Espen Aarseths sehen dieses Defizit und bringen explizit
ihre Unzufriedenheit mit den bisherigen theoretischen Ansätzen zum
Ausdruck. Sie fordern eine neue, an der bestehenden Netzkunst orientierte
Theorie mit entsprechend innovativer Terminologie. Um diese zu entwickeln,
ist es meines Erachtens notwendig, sich genauer vor Augen zu führen,
durch welche Prozesse ästhetische Netzprojekte charakterisiert werden
können.
Streift man durch die Netzkunstlandschaft, so begegnen einem diverse
Experimente mit Grenzüberschreitungen auf ganz unterschiedlichen Ebenen.
Das Phänomen "Inter-" charakterisiert diese verbindenden Sprünge.
Was sich hier abspielt, ist ein Prozeß der Koppelung von ehemals abgetrennten
Kategorien, allerdings nicht in Form einer dialektischen Bewegung,
die aus These und Antithese eine Synthese herstellt, sondern ein Vorgang,
der sich am besten mit Richard Lanhams Begriff der Oszillation fassen
läßt. Dieser besagt letztlich, daß die Zusammenführung verschiedener
Kategorien so erfolgt, daß aus der Interferenz der jeweiligen Elemente
neue, "dritte" Phänomene entstehen, die sich durch kontinuierliche
Interaktion zwischen den sie erzeugenden Teilen in andauernder Transformation
befinden. Ihre Beschreibung verlangt es, sie zunächst einmal als Ganzes
zu betrachten und nicht als Summe ihrer Teile, da aus dieser vor-
und zurückschwingenden Bewegung eine eigene, neue Bedeutungs- und
Beschreibungsebene generiert wird - ein Gesamtdatenwerk (Roy Ascott prägte
diesen Begriff schon 1989). Die Oppositionen werden dabei durch den
Rückkopplungsprozeß zwischen Trennung und Verbindung aufgehoben -
der Link ist dafür letztlich die expliziteste Metapher.
Diesen so gearteten Prozeß habe ich vorläufig - in Anlehnung an die
bisher vorhandene Netzterminologie - "hyperlektische" Oszillation getauft.
In Abgrenzung zur Dialektik, die zwar prozedural ist, aber eine vorerst
statische Synthese hervorbringt, stellt die Hyperlektik einen unendlichen
Prozeß auf verschiedenen Ebenen dar, der aus dem Zusammenspiel diskreter
Einzelelemente Neues erzeugt. Die so entstehenden Szenarien erlangen
aufgrund der vielfältigen Interaktionen niemals einen endgültigen, abgeschlossenen
Status, sondern leben von den Transformationsbewegungen.
In dem Bewußtsein über ihren vorläufigen und versuchsweisen Charakter
möchte ich nun als möglichen Ansatz einer Phänomenologie der Netzkunst
auf der Basis des hyperlektischen Prozesses einerseits, der Ebenenkennzeichnung
von Tech, Desk und Soz andererseits, eine Kategorisierung der Oszillationsprozesse
anhand von Beispielen versuchen. Dabei scheint es nützlich, eine räumliche
Unterscheidung in horizontale und vertikale Oszillationen zu treffen.
Horizontale Oszillationen finden auf einer der drei Ebenen zwischen
dort angesiedelten Kategorien statt, vertikale Oszillationen beruhen
auf der Interaktion der drei Ebenen untereinander.
Die Beschreibung der horizontalen Oszillationen werde ich auf der Desk-Ebene
durchführen, weil sie dort am deutlichsten werden und neu emergierende
ästhetische Elemente einer Netzkunst daran transparent gemacht werden
können:
- Auf der semiotischen Ebene läßt sich eine Interaktion der Zeichensysteme
zu Multimedia-Effekten feststellen: das Oszillieren zwischen traditionell
getrennt wahrgenommenen Zeichensystemen könnte also zu einem neuen
Begriff der Multimediasemiotik führen, für die eine entsprechende
(prozedural orientierte) Theorie zu entwickeln wäre. Diese Tendenz
kann man in nahezu allen größer angelegten neueren Netzkunstprojekten
beobachten. Rein textbasierte Netzliteratur wird möglicherweise
daher in naher Zukunft in Multimedia-Projekten aufgehen. Ein besonders
gelungenes und komplexes Beispiel für diese Art der Oszillation
bietet BEAST, ein Netzprojekt von Jacques Servin,
das die Mensch-Technik-Verschränkung nicht nur praktiziert, sondern
auch inhaltlich thematisiert.
- Daraus resultierend kommt es schließlich auf der kategorialen
Ebene zu einem Verschwimmen der Grenzen zwischen den einzelnen Kunstformen
Musik, bildende Kunst, Film/Video und Text, wobei aus Oszillationen
zwischen den gleichberechtigten Multimedia-Elementen ein neues Szenario
entsteht, das am treffendsten mit dem Begriff "Gesamtdatenwerk"
charakterisiert werden kann. Bestes Beispiel dafür ist das WaxWeb von David Blair - ein seit Jahren immer
wieder überarbeitetes Projekt aus Text-, Bild- und Videoelementen,
das in der neuen, momentan noch nicht zugänglichen Version zusätzlich
noch VRML-Umgebungen enthalten wird.
- Diese Genreüberschreitung impliziert auch eine deutliche Tendenz
zur Intertextualität, die verschiedene Gestalten annehmen kann:
beispielsweise in der Verbindung zwischen Fiktivem und Dokumentarischem
(schön realisiert in dem VR-Projekt Holo-X, bei dem der einrahmende Textkorpus
zahlreiche Links zu "realen" Web-Sites enthält) oder auch - internetspezifisch
- in der Verbindung der verschiedenen textuellen Kommunikationsformen,
z.B. durch Einbindung von E-Mails, wie es Oliver Gassner in dem
schon von ihm vorgestellten Projekt Noise 99
gemacht hat.
Auf der vertikalen Achse kann schon heute eine zunehmende Oszillation
der drei Ebenen Tech - Desk - Soz beobachtet werden, in deren Vertiefung
und Ausarbeitung meines Erachtens die Zukunft einer spezifischen Netzkunst
liegt, da sie die dem Netz inhärenten Strukturen für die ästhetische
Produktion fruchtbar macht.
Auch hier kann nochmals unterschieden werden zwischen Oszillation der
Ebenen Tech und Desk einerseits, zwischen den Ebenen Desk und Soz andererseits,
wobei bei letzterer häufig die Tech-Ebene in unterschiedlichster Weise
thematisiert wird.
Tech-Desk-Oszillationen können folgendermaßen aussehen:
- Eine Ästhetisierung von Programmiersprachen versucht Jodi und erzielt
damit beeindruckende visuelle Effekte.
- Immer häufiger wird die spielerische Irritation des Users durch
fingierte Systemmeldungen praktiziert, die ihn die eminent technische
Basis, auf der er sich letztlich bewegt, nie vergessen läßt (auch
hierfür bietet BEAST ein schönes Beispiel).
- Mit ähnlicher Absicht arbeiten Konzepte, die die technische Ebene
der glatten Web-Siteoberfläche durch deren Dekonstruktion sichtbar
machen, wie Mark Napier dies mit seinem Shredder
versucht.
Die Oszillation zwischen den Ebenen Desk und Soz schließlich führt
in letzter Konsequenz zu partizipativen Projekten, die ich in den Gegensatz
zur reinen Klickkultur der oft inflationär angepriesenen Interaktivität
stellen möchte. Dabei kann die Partizipation unterschiedliche Formen
annehmen:
- Feedback und Diskussionen: Die einfachste und traditionell
orientierte partizipative Form findet sich in den fast nie fehlenden
Aufforderungen zur Diskussion oder Meinungsäußerung zu einem Werk
durch Einfügung eines E-Mail-Links oder durch Gästebücher. Weitergehend
werden teilweise auch projektspezifische Diskussionsforen oder Chats
begründet, wie dies z.B. bei Olivia Adlers Café Nirwana
der Fall ist, in dem die Figuren einer fiktionalen Erzählung darüber
hinaus ein Eigenleben verliehen bekommen - sie erhalten eigene Homepages
und treten als Mailgesprächspartner auf. Dadurch entsteht ein komplexes
Kommunikationsgeflecht, das zugleich die Grenzen zwischen Fiktion
und Realität auf raffinierte Weise unterläuft.
- Kontrolliert-partizipativen Projektnetzen wie Guido
Grigats Erinnerungsuhr 23:40 oder Martina Kieningers Tango
liegt häufig ein Themenkonzept zugrunde, das dann von den Beteiligten
in einem eigenen Projekt aufgegriffen wird. Olga Kisselevas How are
You, eine Frage, die sie zahlreichen Menschen verschiedener
Länder stellte, beruht auf deren Antworten, die Kisseleva dann zu
einem ästhetischen Textgewebe knüpfte. Kontrolliert sind diese Projekte
deswegen, weil jeweils eine zentrale Stelle redaktionell eingreift.
- Non-partizipatives work-in-progress: Eine andere Form der
kommunikativen Ästhetik bietet das Heaven & Hell-Projekt von Olia Lialina
und Michael Samyn, bei dem aus der im WWW dargestellten E-Mail-Kommunikation
zwischen beiden Künstlern neue, aus dem Gespräch resultierende Web-Seiten
entstehen. Unter diese Kategorie fallen auch kollaborative Projekte
von mehreren Autoren, wie z.B. Aliento von John A. Fife, Maximilian Gill und
Udhaya Kulandaivelu, das auf der Basis des Grundrisses einer fiktiven
Stadt an verschiedenen Orten unterschiedliche Geschichtenstränge
verankert und miteinander vernetzt - ein Werk, das von den Autoren
kontinuierlich fortgeschrieben wird.
- Mitschreibeprojekte wie Beim Bäcker,
von Claudia Klinger ins Leben gerufen, verlangen wirkliche literarische
Produktion, bei denen der Nutzer an der von seinen Vorgängern entwickelten
Geschichte weiterschreibt. Im Falle der Bäcker-Thematik entsteht
ein Geflecht aus einzelnen Erzählungen, die sich in verschiedener
Hinsicht (durch Aufgreifen der Charaktere oder Einschalten in die
gerade entwickelte Handlung) aneinander anschließen. Die Hypertexttrees
von gvoon verfolgen ein anderes Konzept: sie schaffen
ein rhizomatisches Textgeflecht zu einem Thema, bei dem sich der
Beteiligte auf einen schon vorhandenen, von ihm gewählten Text bezieht.
Eine besondere Form des Mitschreibeprojekts stellt der Wandertext
Baal lebt
dar, der von Autorenhand zu Autorenhand geht und jedesmal eine Transformation
erfährt.
- Explorativ-partizipative Werke: Ebenfalls eine Form der Kommunikation
mit dem Nutzer kann in solchen Projekten gefunden werden, bei denen
der Nutzer durch seinen Pfad, den er sich schafft, das Projekt verändert
- dies geschieht momentan noch hauptsächlich auf der technischen
Ebene, indem bei längerer Navigation Text- oder Bildsegmente bei
wiederholtem Aufrufen variieren. Vorstellbar wäre, daß diese Form
der Partizipation des Nutzers noch sehr viel stärker ausgeweitet
wird, so daß er bewußt das Projekt mitgestaltet bzw. durch seine
Aktivität eine neue, von ihm geprägte Version des Projektes schafft.
Der Sieger des Pegasus-Wettbewerbs 1998, Die Aaleskorte der Ölig
[nicht mehr im Netz] von Dirk Günther und Frank Klötgen, praktiziert
dies in etwas eingeschränkter Form, indem dem Nutzer verschiedene
Möglichkeiten zur Zusammenstellung einer Geschichte aus Film- und
Textsequenzen zur Verfügung gestellt werden. *snowfields*
von Josephine Berry und Micz Flor lädt dazu ein, auf der Basis einer
in Quadrate unterteilten Karte von Ostberlin zu jedem topographischen
Gebiet eine Geschichte zu entwickeln. Allerdings überwiegt hier
eher die Verwirrung, da (unter Einführung der Tech-Ebene) die vom
Teilnehmer eingegebenen Texte wiederum durch einen Zufallsgenerator
mit den schon vorhandenen Texten gemischt werden und anderen Ortes
in anderem Kontext wieder auftauchen können. Dem Autor wird insofern
die kreative Kontrolle, die er zu erhalten vermeinte, sofort wieder
genommen.
- Partizipative Kommunikationsumgebungen: Die ausgefeilteste
Form der Oszillation von Desk und Soz bilden aber VR-Umgebungen,
wie sie das norwegische Projekt von Meetfactory in Conversation
with Angels [nicht mehr im Netz] realisiert hat. Dort wird der Nutzer
tatsächlich als integraler Gestalter benötigt, quasi immersiv in
diese Welt hineingezogen und kann sie durch seine Aktivitäten mitgestalten.
Die Vorformen dessen finden sich in den MUDs und MOOs, die heute
immer mehr als ästhetische Forschungsobjekte erkannt und behandelt
werden. Sie leben von dem ephemeren Kommunikationsfluß zwischen
den Teilnehmern oder - und hier kommt die dritte funktionale Ebene
ins Spiel - von Teilnehmern mit technisch generierten Bots (wobei
diese nicht als solche gekennzeichnet sind). In solchen VR-Projekten
also findet sich die derzeit expliziteste Oszillation aller drei
funktionalen Ebenen des Netzes, doch sie sind schon ein Vorbote
dessen, was sich vielleicht als spezifische ästhetische Form des
Netzes manifestieren wird, da sie auf der semiotischen Ebene eine
Art "drittes" Phänomen darstellen: Indem die Video- und Bildintegration
zur computeranimierten Bewegung wird, die der Nutzer steuern kann
(wobei er sich durch einen ihm zugeordneten Avatar selbst beobachtet),
und der Text als Gesprächs- bzw. Gestaltungselement integraler Bestandteil
des "Werkes" wird, die einzelnen Situationen zusätzlich noch mit
Tonelementen untermalt werden, entsteht eine intermediale virtuelle
Umgebung, die der Teilnehmer mit Leben füllt und dadurch zu einer
virtuellen Realität macht. Solche Projekte sind durch einen stark
spielerischen Charakter gekennzeichnet, wobei gestaltende Partizipation
im ästhetischen Raum ausgesprochen häufig die Grenze zwischen Kunst
und Spiel überschreitet.
Betrachtet man diesen kurzen Abriß der Einordnung von Netzkunst in
die Kunstgeschichte als logische Folge der immer stärker gewordenen
Verbindungstendenzen von Ästhetik und Sozialem und akzeptiert man die
These, daß das wirklich Netzspezifische eben in der Verflechtung von
Technik, Ästhetik und Sozialem liegt - genauer gesagt: einerseits das
"Inter-" als strukturelles Element und Oberbegriff für den Oszillationsprozeß,
andererseits die Kommunikation als immanentes Element der Realisierung
-, so ist der Weg zu einer Ästhetik, die Kommunikation als konstitutives
Element benötigt, nicht weit: Damit wären wir bei dem Konzept einer
"Ästh-ethik", in der Kunst von der Partizipation lebt - in welcher
Form auch immer. Auch die Tendenz zur Verdichtung des Globalen weist
in diese Richtung: im Netz realisiert sie sich in Form einer Verbindungs-/Trennungs-Oszillation,
die Vernetzungen verschiedenster Perspektiven und Kulturen ermöglicht
und so eine Nivellierung der Divergenzen verhindert. Sie beruht damit
auf einer wirklich kommunikativen Verbindung der einzelnen Teile (noon quilt
und Heaven & Hell sind dafür gute Beispiele)
und ist in dieser Form eine explizite Manifestation des ästh-ethischen
Charakters des Netzes. Idealistisch weitergedacht würde sich dann
vielleicht das realisieren, was Marshall McLuhan und Vilém Flusser
in ihren Visionen einer vernetzten Welt schon konzipierten: eine auf
kooperativer Kreativität basierende Gesellschaft, die nach dem Motto
lebt: "creamus, ergo sumus". So könnte Roy Ascotts Utopie des Gesamtdatenwerks
tatsächlich als Leitfaden für eine spezifische Netzästhetik dienen:
"Wir suchen, kurz gesagt, nach einem GESAMTDATENWERK. Ort der Arbeit
an und der Handlung für ein solches Werk muß der Planet als Ganzes sein,
sein Datenraum, seine elektronische Noosphäre. Die Dauer des Werkes
wird letztlich unendlich sein müssen, da das Werk, das eine Unendlichkeit
von Interaktionen, Inputs und Outputs, Zusammenarbeit und Verbindungen
zwischen seinen zahlreichen Mitarbeitern haben muß, stets in Bewegung
und im Fluß sein müßte. Nachdem Wechselseitigkeit und Interaktion die
Essenz darstellen, kann ein solches Werk nicht zwischen "Künstler" und
"Betrachter", zwischen Produzenten und Konsumenten unterscheiden.
An einem solchen Netzwerk teilzunehmen, bedeutet stets, an der Schaffung
von Bedeutung und Erfahrung mitzuwirken. Die Rollen können nicht auseinandergelegt
werden. Man kann nicht mehr länger am Fenster stehen und die von jemand
anderem komponierte Szene betrachten, man ist vielmehr eingeladen, die
Tür zu einer Welt zu durchschreiten, in der Interaktion alles ist."
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