Der Cyborg und das BEAST
Bemerkungen zu Jacques Servins dämonischem Netz-Werk
von Christiane Heibach (1999)
Links aktualisiert im November 03
Zu keiner seiner Erfindungen hat der Mensch je eine so enge und
ambivalente Beziehung entwickelt wie zum Computer - von emphatischer
Bewunderung bis zu erschreckter Dämonisierung reicht die breit angelegte
Emotionenskala. Das mag daran liegen, daß der Computer als erste
"Maschine" Aufgaben übernehmen kann, die bis dato dem Menschen vorbehalten
waren: Rechnen, Erinnern, Planen, Organisieren - und diese Aufgaben
erfüllt er in einer Geschwindigkeit und Perfektion, wie sie der Mensch
nicht zu leisten im Stande ist. Diese Prozesse vollziehen sich zudem auf
Ebenen, die der Computeranwender niemals zu Gesicht bekommt - die Maschine
entwickelt ein Eigenleben, das sich dem (normal)menschlichen Zugriff
entzieht. Dies sind Provokationen, die nicht unbeantwortet bleiben können
- und so erfand der Mensch die digitale Kunst.
Wie jede künstlerische Bewegung des 20. Jahrhunderts sucht auch ihr jüngster
Sproß, die Abgründe, Grenzen und Überschreitungsmöglichkeiten ihres Mediums
auszuloten - teilweise noch recht hilflos in der Fülle von Programmen
herumtastend, teilweise aber auch schon in hochkomplexer und reflektierter
Weise. Jacques Servins Projekt BEASTTM gehört - obwohl es nach zwei Jahren
Netzdasein fast schon "historisch" zu nennen ist - eindeutig zur letzteren
Kategorie.
Schon die einleitenden Seiten signalisieren das Thema: Ist der Mensch
ein computerbestimmter Cyborg? Die TM-Zeichen-Invasion der
Eingangssequenzen erinnert bedenklich an den Kampf der Software-Firmen um
Marktanteile, in dem bald jedes Wort - WordTM -
markengeschützt wird, und die Diktion der scheinbar erklärenden
Sätze ähnelt den oft kryptischen Anweisungen in Anwenderhandbüchern: "The
options below will help you to investigate options which will in turn
orient you to different configurations of options. Do not select options
which will orient you towards different configurations than those to which
you are inclined by nature." Die alte Natur-contra-Kultur-Thematik also?
Ja und nein. Denn einerseits liefert Servin sein "Publikum" den
java-programmierten hypermedialen Effekten aus, andererseits eröffnet er
ihm dadurch neue Dimensionen der Interaktivität. BEAST ist meines Wissens
eines der wenigen Netzkunstwerke, das eine Form gefunden hat,
unterschiedliche Medien (Text, Ton und Bild) nicht nur nebeneinander zu
stellen, sondern miteinander interagieren zu lassen - in gegenseitiger
Abhängigkeit voneinander.
Verläßt der Nutzer die Eingangsseiten, erscheinen fünf Karten -
Tarotkarten nachempfunden - "War", "System", "City", "Future", "Peace".
Der Klick auf eine der Karten löst rege Ladetätigkeit aus, bunt
unterlegte, fingierte Systemmeldungen flackern über den Bildschirm, bis
schließlich weißer Text auf schwarzem Grund erscheint. Die Abfolge der
Textsegmente - Zitate von Walter Benjamin, Gottfried Benn, aber auch
Abschnitte aus fiktionalen Texten sowie Einzelsätze von Jacques Servin
selbst - funktioniert computergesteuert, der Inhalt des "Initialtextes"
jedoch ist dem Thema der angeklickten Karte eindeutig zugeordnet. Immer
neue Textsegmente erscheinen - allerdings nur begrenzte Zeit, denn
passives Verhalten des Lesers wird mit einer unangenehme Konsequenzen
ankündigenden Systemmeldung bestraft, die diesen zur dringenden Aktion
auffordert. Klickt man auf ein Textsegment, so nimmt der nun folgende
Abschnitt das inhaltliche Thema des vorangegangen auf - jedoch bleibt kaum
Zeit zum Lesen, denn die Zitatesammlung schreibt sich selbst zu schnell
fort.
Die begleitenden Tonsequenzen sind vertraut: der "Begrüßungssound" von
Windows, etwas, das verdächtig nach Toilettenspülung klingt, Hundebellen,
Vogelgezwitscher - Laute des alltäglichen Lebens. Nach einiger Zeit, in
der der BEAST-Neuling verzweifelt mit den Textsegmenten und
Systemwarnungen kämpft, öffnet sich ein mit der Maus navigierbares
dreidimensionales Fenster mit "floating images" - je nach vorangegangenem
Textverlauf erscheinen bestimmte, den Texten zugeordnete Symbole auf einem
- themengebunden variierenden - Hintergrund. Klickt man ein Symbol an,
wird die Tonuntermalung durch eine dem Bild entsprechende Geräuschkulisse
ergänzt (das Lokomotivensymbol erzeugt z.B. typische Zuggeräusche), ein
entsprechendes Textsegment generiert sich gleichzeitig. So besteht eine
komplexe Interaktion der verwendeten Medien, die der schon etwas geübtere
Nutzer nach einiger Zeit tatsächlich bewußt steuern kann.
Doch BEAST ist auch ein Beispiel dafür, daß ausgefeilte
Technikanwendung nicht notwendigerweise auf Kosten der inhaltlichen
"Substanz" gehen muß. Die Textzitate wie die Gestaltung der magischen
Bildwelt modulieren die Mensch-Maschine-Problematik - plakative
Illustrationen und Symbole aus mystischen Kontexten schweben im virtuellen
Fenster mit fliessender Leichtigkeit an Bauplänen und Abbildungen
technischer Geräte vorbei, während die Textsegmente die kritisch
reflektierende Rolle übernehmen. Das Symbol der Kanone kann so folgendes
Zitat aufrufen: "Whereas malfunctions like fear arise from the friction of
dried out humors or feelings, there are other malfunctions that arise from
an extended excess of interhumoral liquids. [...]" (Geoffroi von Benthaus,
"Discrete Psychology in the Nuclear Age"). Das Kriegsgerät wird mit einer
biopsychischen Erklärung für Emotionen konfrontiert, die damit als
Motivation zur Herstellung von Waffen entlarvt werden.
Der zunächst eindeutig erscheinende Titelbegriff bekommt damit eine
ambivalente Bedeutung: Zwar verselbständigen sich die vom Menschen
geschaffenen Geräte - was Servin den Benutzer auch kräftig spüren läßt -
der Ursprung ihrer Existenz aber liegt in den Tiefen und Untiefen
menschlichen Denkens und Fühlens. Esoterik, reflektierende Abstraktion und
die Tendenz zur Schaffung organisierender (und gleichzeitig
chaotisierender) Technologien sind nur verschiedene Artikulationsweisen
des Biests im Menschen. So navigiert man durch die Paradoxie einer mit der
extremen Synchronik medialer Interaktion dargestellten
Mensch-Maschine-Historie und wird mit (fast) allen Sinnen in die
emotionale, tiefenpsychologische und reflexive Komplexität dieser
Beziehung gestoßen - zumal man sie nicht nur distanziert als Sinngehalt
eines Kunstwerks wahrnimmt, sondern sich gleichzeitig in ihr befindet,
sich ihr sogar ausliefert. Abstürze des eigenen Computers gehören somit
zur (ungewollten?) Ästhetik dieser sich in der Tat biestig gebärdenden
Datenkunst.
Jacques Servin, Programmierer und Autor zweier Science Fiction-Romane,
erlangte durch seine Manipulation des Computerspiels SimCopter
Berühmtheit. Er programmierte - angeblich im Auftrag des künstlerischen
Computer-Sabotage-"Geheimbundes" rtmark -
knackige männliche Sims in engen Badeanzügen zwischen die vorwiegend
weiblichen Protagonisten des Spiels. Wild alles küssend, was ihnen in den
Weg kam - einschließlich einander - sollten sie die Selbstgefälligkeit
testosterongeladener heterosexueller Computerspieler irritieren. Auch
BEAST zeigt deutlich Spuren subversiver Tendenzen: Die Dämonisierung des
Computers als Bestie, dem der Benutzer ausgeliefert ist, wird durch die
ästhetische Ausstrahlung der interagierenden Medien unterlaufen. Mit
zunehmender Gewöhnung an den "kognitiven Overkill", dem sich der Neuling
zunächst ausgesetzt fühlt, steigt auch das Gefühl der eigenen Macht dem
System gegenüber. Eine Art cyborgische Harmonie zwischen Mensch und
Maschine stellt sich ein und nimmt vereinfachenden Polarisierungen den
Wind aus den Segeln.
BEAST könnte als konstruktivistische Variante der Geschichte vom
schönen Menschen und dem häßlichen Monster gelten: Es liegt am Menschen,
ob er die Geduld und den Willen aufbringt, sich auf dieses Werk
einzulassen und seine Ästhetik wahrzunehmen. Nur er kann die Harmonie in
sich herstellen, die aber niemals zum Dauerzustand, zum "Happy End" führt
- allein schon die Systemabstürze stellen das Kräfteverhältnis immer
wieder in Frage. Auch hier gibt es keinen stabilen Zustand des
Gleichgewichts - nur Werden.
BEAST beruht zwar auf einem Hypertextsystem, geht aber weit über das
simple Node/Link-Modell hinaus und läßt ahnen, daß die derzeit dominierende
Hypertextstruktur tatsächlich nur eine Art Kinderkrankheit auf dem Weg
zu einem "humaneren" (Servin) - das heißt letztlich interaktiveren - Umgang
mit dem neuen Medium darstellen könnte. Obwohl als Work-in-Progress konzipiert,
wurden die in Servins eigenem Statement zu
BEAST angekündigten Weiterentwicklungen sowie die eigene Domain nie verwirklicht.
Jacques Servin selbst ist seit einiger Zeit aus der Netzkunstszene verschwunden
- schade, denn sie würde ihn dringend brauchen.
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